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Die Rückkehr des Tattoos in die Mitte der Gesellschaft

Written by Joachim Dreher

11 September 2018

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Spuren erster Tätowierungen – permanenter Körperschmuck, der im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht – gibt es seit mehreren zehntausend Jahren. In nahezu  allen Ländern und Regionen der Welt wurden seit Urzeiten Farbpigmente aus unterschiedlichsten Rohstoffen mit Nadeln, Knochen, Hölzern oder anderen scharfen Gegenständen unter die Haut gebracht. Die Gründe hierfür waren seit jeher so vielfältig wie die verwendeten Techniken. Sei es aus medizinischen Gründen, als Strafe und permanente Stigmatisierung oder um die Zugehörigkeit zu einer sozialen, staatlichen oder beruflichen Gruppe, Kaste, Glaubensgemeinschaft oder Subkultur zu demonstrieren.

Tätowierungen im Wandel der Zeiten
Die Beliebtheit und Akzeptanz gegenüber den dauerhaften Körperbemalungen war jedoch über die vergangenen Jahrhunderte einem ständigen Wandel unterworfen. Auf Modetrends, die Ende des 19. Jahrhunderts selbst den europäischen Hochadel – König Edward VII., Zar Nikolaus II. und selbst Königin Victoria waren teilweise recht großflächig tätowiert  – folgte schnell gesellschaftliche Ächtung (siehe auch Gabriele Hofmann, Alles über Tattoos, 2004).  Kirchliche Verbote, die sich eindeutig gegen die permanente Verzierung des eigenen Körpers aussprachen, wurden häufig bewusst ignoriert. In Japan brachten Kriminelle die zeitweilig hochgeachtete Körperkunst bis heute in Verruf und aus einem Randgruppenphänomen entwickelte sich in den vergangenen 30 Jahren der globale Tattoo-Hype, den wir heute fast weltweit erleben.

Aus Rebellion und Gruppendynamik wird Mainstream
Wer also glaubt, das Tattoo sei ein Massenphänomen der Gegenwart, für nahezu jedermann kompatibel populär gemacht von prominenten Musikern, Schauspielern und Sportlern, der irrt. Doch wie konnte diese so augenfällige Kunst- und Ausdrucksform – in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts außer bei Randgruppen und Subkulturen noch weitestgehend verpönt – sich in so kurzer Zeit zu einem schichtübergreifenden Phänomen auswachsen? Waren früher hauptsächlich Punks, Skins, Rockabillys oder Biker tätowiert, findet man heute kaum einen Polizisten, Bankangestellten, Handwerker oder Studenten mehr ohne subdermalen Körperschmuck. Zeichnungen auf der Haut sind ohne Frage in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Elmar Brähler, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Leipzig, der gemeinsam mit Dr. Ada Borkenhagen eine repräsentative Studie zur Verbreitung von Tätowierungen, Piercing und Körperhaarentfernung in Deutschland initiiert hat, sieht darin eine Werteverschiebung. „Früher gehörten Tattoos in die Schmuddelecke. Heute gelten Menschen mit Körpermodifikationen als aufgeweckte, moderne und interessierte Individuen, die sich bewusst zu einer sozialen Gruppe bekennen“, so Brähler. Und es werden immer mehr. Knapp ein Viertel aller Deutschen ist heute tätowiert, Tendenz weiter steigend. Die Lust an der Modifikation des eigenen Körpers nimmt vor allem bei Frauen und älteren Menschen stetig zu. Rund die Hälfte der weiblichen Bevölkerung zwischen 25 und 34 Jahren ist tätowiert – 19 Prozent mehr als noch acht Jahre zuvor. Auch in der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen gibt es – im Vergleich zu 2009 – 15 Prozent mehr tätowierte Frauen. Im internationalen Vergleich rangieren die Deutschen dennoch lediglich auf dem 11.Platz, wie eine Studie mit mehr als 5.000 Teilnehmern aus 18 Ländern ergab.

Gesellschaftliche Werteverschiebung
Der Tätowierung käme immer größere Bedeutung zu und damit wachse auch der Schönheitsmarkt. „Körper sollen heute möglichst jugendlich und individuell aussehen“, erklärt die Psychologin Ada Borkenhagen. Aber auch der normative Druck spiele eine Rolle. Wenn sich der Großteil der eigenen sozialen Gruppe tätowiert, dann sei es schwerer, es nicht zu tun. Die soziale Herkunft ist ebenfalls von Bedeutung. Den Studienergebnissen zufolge, haben Personen, die ein Tattoo tragen, häufiger einen geringeren Bildungsabschluss als Menschen ohne eine Tätowierung. Insgesamt zeige der Umgang mit dem eigenen Körper auch immer die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels von Schönheitsidealen. Wobei sich durch die moderne Lasertechnologie der Begriff „für immer“ auch ein wenig relativiert hat. Zumindest kleine und weniger komplexe Tattoos können, zwar sehr schmerzhaft und kostenintensiv, heute relativ unkompliziert entfernt werden. Auf diese Weise wird die Entscheidung,  sich aus eher unüberlegten oder rein trendgesteuerten Gründen eine Tätowierungen  machen zu lassen, definitiv vereinfacht. Ob sich die permanente Hautkunst in dieser Ausbreitung auf lange Sicht etablieren oder das ganze Thema vielleicht in naher Zukunft wieder abebben wird, bleibt abzuwarten. Die Zyklen der Geschichte zeigen – es bleibt spannend.

 

Grafiken: Statista /Foto: Céline PREHER auf Unsplash